3. Zeitlicher Anwendungsbereich
Die Regelung gilt nur für Verträge, die ein Dauerschuldverhältnis beinhalten und welche vor dem 8.März 2020 geschlossen wurden (Art. 240 § 1 Abs. 1 [bzw. Abs. 2] Satz 2 EGBGB). Wer in Kenntnis der Pandemie einen Vertrag abschließt, muss ihn auch uneingeschränkt erfüllen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Rückstände, die schon vor dem 8. März 2020 angelaufen sind, erfasst werden. Als Datum kommt insoweit auch der 12. März 2020 in Betracht, weil erst an diesem Tag der Ständige Ausschuss des WHO-Regionalkomitees für Europa die Pandemie festgestellt hat.12 Ohne Pandemie kann es kein Leistungsverweigerungsrecht »wegen der Pandemie« (unten 4 und 5) geben. Es stellt sich dann die weitere Frage, ob der Rückstand vor dem Stichtag - richtigerweise der 12. März 2020 - schon fällig gewesen sein muss, um die Berufung auf das Leistungsverweigerungsrecht auszuschließen, was wohl zu bejahen ist. Fälligkeit tritt bei der Energielieferung in der Regel »frühestens … zwei Wochen nach Zugang der Zahlungsaufforderung« ein.13 Bei Wasser14 und Fernwärme15 gilt das Gleiche. Anders herum ausgedrückt: Schon vor dem 12. März 2020 fällige Forderungen können uneingeschränkt verfolgt werden, denn für deren nicht rechtzeitige Erfüllung kann die Pandemie nicht die Ursache sein. Die Regelung ist weiterhin bis zum 30. Juni 2020 befristet (Art. 240 § 4 EGBGB). Allerdings kann die Bundesregierung sie durch Rechtsverordnung bis zum 30. September 2020 verlängern. Spätestens dann, wenn nicht schon vorher (dazu unten II), können Forderungen - auch die während des Moratoriums angelaufenen, denn die Bestimmung lässt deren Bestand unangetastet - wieder uneingeschränkt geltend gemacht werden.
4. Pandemiebedingte Unmöglichkeit des Verbrauchers
Die Leistung darf von einem Verbraucher nur verweigert werden, wenn ihre Erbringung »infolge von Umständen, die auf die Ausbreitung der Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) zurückzuführen sind ohne Gefährdung seines angemessenen Lebensunterhalts oder des angemessenen Lebensunterhalts seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen nicht möglich wäre.« (Art. 240 § 1 Abs. 1 Satz 1 EGBGB). Hier müssen also zwei Voraussetzungen kumulativ gegeben sein: Die »Unmöglichkeit« der Leistung muss pandemiebedingt sein und sie müsste, würde sie doch erbracht, den angemessenen Lebensunterhalt gefährden. Hier muss also keine gänzliche Unmöglichkeit vorliegen, es reicht die Gefährdung des angemessenen Lebensunterhaltes im Falle der Leistung.
5. Pandemiebedingte Unmöglichkeit des Kleinstunternehmers oder Gefährdung der wirtschaftlichen Grundlagen des Erwerbsbetriebs
Für den Kleinstunternehmer ist die Regelung etwas anders ausgestaltet: Die Leistung darf nur verweigert werden, wenn ihre Erbringung »infolge von Umständen, die auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen sind« gänzlich unmöglich ist (Art. 240 § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EGBGB) oder (alternativ) die »wirtschaftlichen Grundlagen seines Erwerbsbetriebs« »gefährden« würde (Art. 240 § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EGBGB).
6. Rechtsfolge: Leistungsverweigerungsrecht = materiellrechtliche Einrede
Liegen diese Voraussetzungen alle vor, dann hat der Schuldner jeweils »das Recht, Leistungen zur Erfüllung (des) Anspruchs zu verweigern«. Das Recht, eine Leistung vorübergehend zu verweigern stellt rechtlich eine dilatorische (hemmende) Einrede dar. Diese muss geltend gemacht werden, um das Gegenrecht zum Entstehen zu bringen. Solange der Schuldner sich nicht rührt, gibt es keinen Grund für den Gläubiger seine Forderungsbeitreibung zu unterbrechen; vorauseilender Gehorsam ist nicht angezeigt. Die Einrede ist auch nur materiell-rechtlich, aber nicht prozesshindernd. Sie hindert somit weder einen gerichtlichen Mahnantrag noch eine Zahlungsklage, wohl aber - wenn sie zurecht erhoben wurde - die Aufrechnung (§ 390 BGB).
7. Gegenrecht des Gläubigers (Art. 240 Abs. 3 EGBGB)
Damit ist die Prüfung aber noch nicht zu Ende, denn das Vorstehende »gilt nicht«, wenn die Ausübung des Leistungsverweigerungsrechts für den Gläubiger seinerseits unzumutbar ist, da die Nichterbringung der Leistung die wirtschaftliche Grundlage seines Erwerbsbetriebs gefährden würde. Das kann der (unternehmerische) Gläubiger sowohl dem Verbraucher (Art. 240 Abs. 3 Satz 1 EGBGB) als auch dem Kleinstunternehmer (Art. 240 Abs. 3 Satz 2 EGBGB) entgegenhalten. Wenn das Leistungsverweigerungsrecht danach ausgeschlossen ist, steht dem Schuldner »das Recht zur Kündigung zu« (Art. 240 Abs. 3 Satz 3 EGBGB), wobei von einer außerordentlichen Kündigung nicht die Rede ist, obwohl nur dies Sinn und Zweck der Regelung sein kann; ordentlich kündigen kann der Schuldner ohnehin. Obwohl die Formulierung »gilt nicht« dagegenspricht, ist jedenfalls sicherheitshalber davon auszugehen, dass dieses Gegenrecht zum Gegenrecht ebenfalls eine Einrede darstellt (sozusagen die Einrede gegen die Einrede), welches geltend zu machen ist.
II. Rechtliche Einordnung: Zahnloser Tiger
1. Starke Stellung des Gläubigers
Es fällt schwer, bei der Besprechung dieses gesetzgeberischen Monstrums sachlich zu bleiben: Da stehen sich wie bei High Noon zwei gegenüber, es geht aber nicht darum, wer schneller zieht, sondern wer die leereren Taschen vorzeigt. Der Gläubiger ist aber klar im Vorteil: Trotz (angeblicher) Gefährdung des angemessenen Lebensunterhalts oder der wirtschaftlichen Grundlagen des Erwerbsbetriebs des Schuldners kann er mit der (angeblichen) Gefährdung der wirtschaftlichen Grundlage seines Erwerbsbetriebs kontern. Wer wirklich die besseren Karten hat, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand; das entscheiden später, wenn die Pandemie längst vorbei ist, die Gerichte. Deshalb kann es für die Gläubiger - auch und gerade für die primär adressierten - nur die folgenden klaren Empfehlungen geben:
- Der Gläubiger wendet stets - schon vorgerichtlich - die Unzumutbarkeit (Art. 240 Abs. 3 Satz 1 bzw. Satz 2 EGBGB) ein.
- Dies gilt insbesondere für Netzbetreiber, die gesetzlich verpflichtet sind, »diskriminierungsfrei Netzzugang zu gewähren « (§ 20 Abs. 1 Satz 1 EnWG). Stellten alle Netznutzer - auch und insbesondere Lieferanten, welche alle gleich zu behandeln sind - ihre Zahlungen auf die Netznutzungsentgelte ein, wäre die wirtschaftliche Grundlage des Netzbetriebs ohne Zweifel gefährdet.
- Netzbetreiber (und Kraftwerksbetreiber, nicht aber Lieferanten) sowie Wasser- und Fernwärmeversorger können überdies ins Feld führen, sie seien von »besonderer Bedeutung für das Funktionieren des Gemeinwesens« (§ 2 [Energie einschließlich Fernwärme] und § 3 [Wasser] BSI-KritisV), also »systemrelevant«.
- Grundversorger fallen zwar nicht unter die BSI-KritisV, haben aber als Lieferanten letzter Instanz ebenfalls eine aus § 36 Abs. 1 Satz 1 EnWG abzuleitende wichtige Aufgabe der Daseinsvorsorge, die sie einwenden können.
- Die Telekommunikation zählt ebenfalls zu den kritischen Infrastrukturen (§ 5 BSI-KritisV).
Die - vorgerichtliche und gerichtliche - Geltendmachung der Forderung, welche als solche vom Gesetz nicht in Frage gestellt wird, ist nicht gehindert, weshalb den Gläubigern deshalb zusätzlich nur zu empfehlen ist:
- Der Gläubiger setzt seine Forderungsbeitreibung fort, forciert sie sogar tunlichst.
2. Prozessuales
Da es sich bei dem vorübergehenden Leistungsverweigerungsrecht um eine Einrede handelt, die zwar vorgerichtlich und gerichtlich vom Schuldner geltend gemacht werden kann, die gerichtliche Verfolgung von Forderungen, deren Bestand als solcher vom Gesetz nicht in Frage gestellt wird, aber nicht hindert, kann der Gläubiger zulässigerweise im Prozess das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen (Umstände, die auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen sind, Gefährdung des angemessenen Lebensunterhalts bzw. der wirtschaftlichen Grundlagen seines Erwerbsbetriebs) mit Nichtwissen bestreiten. Dann muss der Schuldner nach allgemeinen Beweisregeln diese ihm günstigen Tatsachen darlegen und beweisen, was bedeutet, dass er eine detaillierte Einkommens- und Vermögensauskunft erteilen und die Angaben belegen muss.
Gelingt ihm dies nicht, scheitert die Klage des Gläubigers nicht daran. Gelingt es ihm und kann der Gläubiger nicht seinerseits die Unzumutbarkeit beweisen (was schon mit einer guten Argumentation, die das Ganze in den Blick nimmt, ggf. auch mit einer Wirtschaftsprüferbescheinigung und der Benennung des Wirtschaftsprüfers als Zeugen durchaus gelingen kann), ist die Klage als derzeit unbegründet zurückzuweisen - das jedoch nur, wenn zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung die Regelung noch gilt. Aber auch das wird eher nicht geschehen, weil die Gerichte derzeit neue Klagen wohl eher nicht zügig abarbeiten werden. Das gerichtliche Mahnverfahren wird sowieso nicht beeinflusst.
3. Versorgungsunterbrechung weiter möglich
Und was ist zur eingangs erwähnten Behauptung in der Gesetzesbegründung zu sagen, das Gesetz diene dazu, dass Verbraucher und Kleinstunternehmen »von Leistungen der Grundversorgung (Strom, Gas, Telekommunikation, soweit zivilrechtlich geregelt auch Wasser) nicht abgeschnitten werden, weil sie ihren Zahlungspflichten krisenbedingt nicht nachkommen können«?16 Davon steht nichts im Gesetz und ein dahingehender Entschließungsantrag der LINKEN17 wurde ausdrücklich abgelehnt18, was nur zu einem weiteren Rat führen kann: