Verlag Versorgungswirtschaft - page 32

ARBEITSRECHT
Bearbeitung durch Dr. Jutta Cantauw und André A. Schiepel, maat Rechtsanwälte, München
DokNr. 17004092
Objektive Eignung des Bewerbers ist keine
zwingende Voraussetzung einer Entschädigung
wegen Diskriminierung
– BAG, Urteil vom 19.05.2016 – 8 AZR 470/14 –
(siehe auch BAG vom 19.05.2016 – 8 AZR 583/14 zu einem
weiteren Verfahren des Klägers)
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass ent-
gegen seiner früheren Rechtsprechung auch ein für die aus-
geschriebene Stelle objektiv ungeeigneter Bewerber einen
Anspruch nach § 15 Abs. 1, 2 AGG auf Entschädigung oder
Schadensersatz wegen unzulässiger Diskriminierung bei der
Stellenbesetzung haben kann.
Die Beklagte, eine Rechtsanwaltskanzlei, suchte per Stellen-
anzeige einen »Rechtsanwalt (m/w) mit 0 – 2 Jahren Berufs-
erfahrung« und bot potenziellen Bewerbern »eine langfris-
tige Perspektive in einem jungen und dynamischen Team«.
Von dem Bewerber werde u. a. »eine erstklassige juristische
Qualifikation« erwartet. Der 1953 geborene Kläger bewarb
sich erfolglos auf die Stelle. Er ist promoviert und als Einzel-
anwalt tätig. Beide juristische Staatsprüfungen hatte er mit
sieben Punkten (befriedigend) bestanden. Die Beklagte be-
schäftigte nur angestellte Rechtsanwälte, die beide Prüfun-
gen mit mindestens neun Punkten (vollbefriedigend) bestan-
den hatten. Kurz nach Erhalt der Absage machte der Kläger
eine Entschädigung und Schadensersatz nach § 15 Abs. 1, 2
AGG geltend. Parallel betrieb er diverse weitere Entschädi-
gungsprozesse gegen andere Arbeitgeber. Das Arbeitsgericht
und das Landesarbeitsgericht (LAG) gaben der Klage nicht
statt.
Das BAG wies die Sache zur neuen Verhandlung und Ent-
scheidung an das LAG zurück. Die objektive Eignung eines
Bewerbers sei nicht zwingende Voraussetzung für einen An-
spruch auf Schadensersatz oder Entschädigung nach § 15
Abs. 1, 2 AGG. § 7 Abs. 1 AGG verbiete u.a. unzulässige Be-
nachteiligungen einer Person gegenüber anderen Personen
wegen des Alters. Voraussetzung sei sowohl bei einer unmit-
telbaren als auch bei einer mittelbaren Diskriminierung, dass
sich die unterschiedlich behandelten Personen in einer ver-
gleichbaren Situation befänden. Nach der bisherigen Recht-
sprechung des BAG ist dies bei der Stellenbesetzung nur
dann der Fall, wenn ein Bewerber für die ausgeschriebene
Stelle objektiv geeignet ist. Diese Rechtsprechung hat das
BAG nun aufgegeben. Das Fehlen der objektiven Eignung
schließe die Vergleichbarkeit mit objektiv geeigneten Bewer-
bern und damit eine ungerechtfertigte Benachteiligung im
Verhältnis zu diesen nicht aus. Vielmehr befänden sich Be-
werber grundsätzlich bereits dann in einer vergleichbaren
Situation, wenn sie sich um dieselbe Stelle beworben haben.
Darüber hinaus sei es entgegen der bisherigen Rechtspre-
chung des BAG für die Anwendbarkeit des AGG auch nicht
erforderlich, dass sich der Arbeitnehmer subjektiv ernsthaft
um die Stelle beworben habe. Dies sei eine Frage des Rechts-
missbrauchs. Wenn sich der Kläger bei der Beklagten nicht
beworben haben sollte, um die ausgeschriebene Stelle zu
erhalten, sondern ausschließlich um eine Entschädigung zu
erlangen, spreche »alles dafür«, dass dem Entschädigungs-
anspruch nach § 15 Abs. 2 AGG der Einwand des Rechtsmiss-
brauchs (§ 242 BGB) entgegengehalten werden könne. An
den Einwand des Rechtsmissbrauchs seien aber strenge An-
forderungen zu stellen. Erforderlich sei, dass der Arbeitgeber
Anhaltspunkte für ein systematisches und zielgerichtetes
Vorgehen des Bewerbers darlege und beweise, das auf der
Erwägung beruhe, bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise wer-
de letztlich ein auskömmlicher »Gewinn« verbleiben, weil
der Arbeitgeber – sei es bereits unter dem Druck einer ange-
kündigten Entschädigungsklage oder im Verlauf eines Ent-
schädigungsprozesses – freiwillig die Forderung erfülle oder
sich vergleichsweise auf eine Entschädigungszahlung einlasse.
Hierfür reiche es weder aus, dass sich der Kläger möglicher-
weise wenig Mühe bei der Abfassung des Bewerbungsschrei-
bens gegeben habe, noch dass er mehrere Entschädigungs-
prozesse führe und zwar grundsätzlich auch dann nicht, wenn
er sich stets auf Stellen beworben haben sollte, deren Aus-
schreibung den Anschein einer Diskriminierung erwecke.
Ob die Stellenbeschreibung im vorliegenden Fall gegen das
Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstieß und
damit eine Vermutung für eine Diskriminierung des Klägers
im Auswahlverfahren begründete, ließ das BAG offen. Das
Anforderungskriterium »0 – 2 Jahre Berufserfahrung« sah das
BAG als mittelbar benachteiligend an, das Angebot einer
langfristigen Perspektive in einem »jungen und dynamischen
Team« als unmittelbar benachteiligend. Das LAG habe nur
noch zu prüfen, inwieweit die unmittelbare Benachteiligung
nach § 8 Abs. 1 oder § 10 AGG gerechtfertigt und damit
zulässig sei. In diesem Fall sei auch die mittelbare Diskrimi-
nierung gerechtfertigt.
Das BAG weist darauf weiter hin, dass der Arbeitgeber die
Vermutung für eine Diskriminierung ggf. auch dadurch wider-
legen kann, dass er vorträgt, bei der Behandlung aller Bewer-
bungen nach einem bestimmten Verfahren vorgegangen zu
sein, das eine Benachteiligung wegen des Alters ausschließe.
Dies könne z. B. anzunehmen sein, wenn der Arbeitgeber dar-
lege und beweise, dass er ausnahmslos alle Bewerbungen in
einem ersten Schritt daraufhin gesichtet habe, ob der Bewer-
ber eine zulässigerweise gestellte Anforderung erfülle und all
die Bewerbungen von vorneherein aus dem weiteren Aus-
wahlverfahren ausgeschieden seien, bei denen dies nicht der
Fall gewesen sei und dass der genommene Bewerber die
Anforderung erfüllt habe.
Hinweis:
Das BAG stellt in der Entscheidung grundlegend
neue Regeln für den Umgang mit objektiv ungeeigneten Be-
werbern auf. Nach der bisherigen Rechtsprechung waren die
objektive Eignung des Bewerbers und die subjektive Ernst-
haftigkeit der Bewerbung zwingende Voraussetzungen einer
Entschädigungsklage. Diese Rechtsprechung hat das BAG nun
aufgegeben. Hat der Arbeitgeber durch »unglückliche« For-
mulierungen in der Ausschreibung eine Vermutung für eine
Diskriminierung begründet, hindert ihn das zwar nicht, er-
folgreich damit zu argumentieren, der Bewerber erfülle be-
stimmte zulässige Anforderungen nicht und sei allein deshalb
aus dem weiteren Auswahlverfahren ausgeschieden. In die-
sem Fall muss der Arbeitgeber allerdings umfassend darlegen
und gegebenenfalls beweisen, dass ausnahmslos alle Bewer-
bungen zunächst daraufhin gesichtet wurden, ob die Bewer-
ber diese Anforderung erfüllen und alle Bewerber, bei denen
dies nicht der Fall war, daraufhin abgelehnt wurden. Arbeit-
geber sind daher gut beraten, höchste Sorgfalt sowohl bei der
Formulierung von Stellenanzeigen als auch bei der Gestal-
tung des Auswahlverfahrens aufzuwenden. Auch bei augen-
scheinlich auf eine Entschädigung abzielenden Bewerbungen
ist besondere Vorsicht geboten. Auf den Einwand des Rechts-
missbrauchs sollte man besser nicht setzen. Das BAG stellt
insoweit sehr hohe Anforderungen.
– JC –
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